Ein kompromißlos subjektiver Erlebnisbericht vom JazzBaltica 2005 aus der Sicht des Fahrers
Es war um 2005, ich war mitten im Studium, oder besser: stand schon länger vor'm Abschluß und machte ein Praktikum und Job nach dem anderen. Entweder am Filmset als Tonmann, in Schallarchiven bei Radios oder eben als "Hand" auf Festivals oder Konzerten. Neben meiner aktiven Tätigkeit als Musiker im Proberaum, dem Studio und auf der Bühne war das eine größere Menge zu tun, dass ich - oh Schreck! - das Studium (Musikwissenschaft, Pädagogik) an der Oldenburger Universität vergaß. Oder vielleicht auch vergessen wollte. Ich drückte mich vor dem letzten Schritt: die Prüfungen und vor allem die Abschlussarbeit standen mir vor'm Kopf.
Wie gut das am Ende dann doch noch lief, wäre vielleicht auch mal'ne Geschichte für sich. Vielleicht...
Also, 2005, Studium, viele Nebenjobs, einer davon die Bewerbung um den Job des Künstlerfahrers auf dem bekannten JazzBaltica Festival in Schleswig Holstein.
Ich bekam den Job, war dankbar um die Schreibpause um meine Abschlussarbeit, die vorzubereitenden Prüfungen und meine Tätigkeit als Barkeeper (wieder 'ne ganz eigene Geschichte).
Ich freute mich, ein paar Tage in das weite Meer des Jazz blicken zu können; ganz hautnah.
In der Zeit vom 30. Juni - 4. Juli 2005 sollte ich diese Gelegenheit haben. Der Rahmen des jährlich stattfindenden JazzBaltica-Festivals war zum einen eine passende Ergänzung für mein Studium, gleichzeitig eine Auszeit davon und am Ende ein ad-on für das innere Poesiealbum.
Jedes JazzBaltica stand bis dahin unter einem speziellen Motto: 2005 war es "On Drums". Daher so Größen wie Jack de Johnette, Trilok Gurtu, Wolfgang Haffner, Brian Balde und und und. Um die und weitere soll es in dieser Reihe gehen.
Einem Menschen im PKW nahe zu sein: das kennen wir.
Einem weltbekannten Menschen im PKW nahe zu sein: aufregend und mit etwas Übung auch inspirierend. Ich versuche diesen Begriff in meinem täglichen Wortschatz sonst zu meiden, weil er mir in mancherlei Zusammenhang zu inflationär verwendet wird. Hier erlaube ich mir den Einsatz einmal.
Ankommen
Als ich am Bahnhof in Lübeck einfuhr, wartete zunächst mal ein Shuttle auf mich. Ein Fahrerkollege sammelte mich auf und auf der Fahrt zum Ziel bekam ich schnell ein erstes Bild des geschäftigen Treibens der nächsten Tage. Ständig klingelte das Telephon im Wagen und ich wurde nebenbei mit Infos zur Ortskenntnis oder Handhabung dicker schwarzer Limousinen eingeführt.
Am Festivalgelände angekommen ließ mich das Dispobüro nach kurzer Einweisung erstmal in Ruhe. Ich nutzte die Gelegenheit, mich auf dem Gelände umzusehen. Das Festival wurde damals hauptsächlich auf dem Gelände von Schloss Salzau ausgetragen. Es gab auch ein paar ausgelagerte Spielstätten, die dann auch von uns zu befahren waren.
Das Gut Salzau liegt nördwestlich am Selenter See. Mit dem Auto fährst Du grob 30min. bis nach Kiel. Hier waren einige der Künstler in einem Hotel untergebracht.
Die im Internet als Gut (-shof) beschriebene Immobilie war seiner Zeit allerdings so "gut", dass ich es eher als Schloss bezeichne. Das Haupthaus brannte irgendwann ab und wurde dann neu aufgebaut und diente den Rittern der Region ursprünglich als Heimstätte. Um das Haupthaus gibt es zwei Scheunen und einen kleinen See.
Im Haupthaus selber fanden die vielzitierten nächtlichen inoffiziellen Sessions der Künstler statt. Hier konntest Du bis spät in die Nacht, oder besser bis in den frühen Morgen verträumt oder angeschossen oder beides den Musikern lauschen. Es gab Gäste, die haben es sich mit Decken auf dem Parkett gemütlich gemacht und sind dort weggenickt.
Dann gab es Openair Bühnen. Die beiden Scheunen waren die Hauptspielorte. Das Personal war im Haupthaus untergebracht. Ich also auch.
Ich verzichte auf weitere Beschreibungen des Hauses und seiner Umgebung und setze lieber einen Link zum Ergebnis der Onlinebildersuche: klick.
Atmosphäre
Festivals haben immer was Geselliges, Belebendes und Bewegtes. Das wissen alle, die Festivals besucht haben. Da findet neben der eigentlichen Attraktion immer noch viel nebenher statt: Austausch, Kommunikation und so.
Das JazzBaltica - jedenfalls zu der Schloss Salzau-Zeit (später ist das Festival räumlich versetzt worden) - war damals bekannt für seine lockere, ungezwungene Stimmung. Es gab einerseits die jazztypischen Rotweintrinker mit Cordhose und Strohhut und auf der anderen Seite auch Typen mit zerrissen Jeans und so. Und ganz viel dazwischen. Alles dabei. Alles cool. Soweit erstmal keine sooo große Besonderheit? Ok!
Das Besondere an diesem Festival war die Nähe zum Künstler. Es gab nur wenig abgesperrte Bereiche. Backstage, ja klar. Und die Künstler schliefen auch nicht mit den Gästen in deren Wohnwagen. Ok.
Tagsüber begegnete einem auf der Wiese, im Café oder sonst wo auf dem Gelände immer wieder der eine oder andere Künstler. Es kam vor, dass die Musiker sich im Garten an den Tisch von Gästen setzten. Alles ungezwungen oder dass es etwa vertraglich mit ihnen vereinbart war. Das passierte einfach so.
Morgens joggte mal Jim Hall an einem vorbei oder Roy Haynes machte ein Interview auf dem Gartenstuhl auf der öffentlichen Wiese, ohne dass das eine große Nummer war oder eine draus gemacht wurde.
Trilok Gurtu hat am See hinterm Schloss an einem Nachmittag mit einigen Musikern (oder waren es Fans?) ne kurze Lektion in Polyrhythmik gejammt. Solche Momente gab es viele. Und sie waren so zahlreich wie auch immer schnell wieder vorbei.
Diese Rezeption im Vorbeigehen bereicherte den Gast manchmal mehr, als das Konzert an sich.
Das Irre meiner Aufzeichnungen ist: ich habe nicht ein Photo gemacht an all den Tagen der Fahrerei! Schätze, ich hatte keinen Bock auf Zoo spielen.
Aber Schluß jetzt! Ich fange einfach mal mit der ersten Begegnung an.
1. Begegnung: Die beruhigende Hand des Wolfgang Muthspiel
Ich fahre Wolfgang Muthspiel am Freitag Abend. Es ist der zweite Tag und ich beginne zum besseren Verständnis etwas früher.
Ich soll in Kiel einen abgestellten Wagen vom Kieler Kaufmann, dem Hotel von Joe Lovano, Hank Jones und Co, abholen. Am Nachmittag hatten wir ein paar Probleme mit ´nem A8 und dieser wurde im Laufe des Tages irgendwie rangiert und gegen einen Murano ausgetauscht. Den soll ich jetzt holen.
Ich sitze im Wagen zusammen mit einem Fahrerkollegen und Wolfgang Muthspiel. Er möchte vor seinem Duo-Gig mit Brian Blade noch mal kurz zum Hotel.
In Kiel angekommen tauschen wir die Kutschen, ich nehme mir den neuen Murano, fahre zum Hotel, in welchem Wolfgang abgestiegen ist und warte.
Er kommt nicht allein, sondern in Begleitung einer Frau. Fast in Galadress gekleidet. Schick!
Wie sich herausstellt, ist es seine Partnerin.
Wir unterhalten uns nett, ich höre mit halbem Ohr, dass Wolfgang offenbar aufgeregt ist („Entspann Di einfach aan bisserl!“, sagt sie zu ihm) und ich fahre die Strecke richtig ab. Diesmal ohne mich zu verfahren. Nicht wie gestern in meiner ersten Tour mit den Finnen im überladenen Van. Eine Stressfahrt aus verschiedenen Gründen. Für alle im Wagen. Aber lassen wir das.
Kurz vor’m Ziel – ich kann jetzt nicht mehr viel falsch machen – legt Wolfgang mir seine Hand auf die Schulter und sagt lachend: „Sehr gut gefahren. Kannst den Finnen sagen, Du bist gar nicht so doof.“
Ich greife mit meiner Linken instinktiv an meine Schulter, wo die Hand Wolfgangs ruht und klopfe zweimal drauf.
Ich bin einfach sehr erleichtert und furchtbar dankbar für diese Geste.
Wolfgang, Du hast mich wieder heil gemacht!
In der nächsten Episode aus "Der Künstler neben mir" geht's dann um eine rasante Autofahrt mit Joe Lovano und Palle Danielsson.
Bis dahin bleibt gut im Fluss!
Euer Kai
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